Monatsarchive: Juni 2016

Elias Canetti: Die Fackel im Ohr

Auf der Suche nach Identität

Lebensgeschichte 1921–1931, Fischer Taschenbuch Verlag, 23. Auflage, Frankfurt am Main 2005 – www.fischerverlage.de

Cover Canetti Fackel im Ohr

Foto: Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main

An einer Stelle des zweiten Teils seiner Autobiographie lässt Elias Canetti wie beiläufig einen Schlüsselsatz für das Verständnis seiner Person und seines Werks fallen: Er habe immer gerne zugehört, wenn andere Menschen von sich sprächen, „diese scheinbar ruhige, passive Neigung ist so heftig, daß sie meine innerste Vorstellung von Leben ausmacht. Tot werde ich sein, wenn ich nicht mehr höre, was mir einer von sich erzählt“ (S. 262). Wie sehr ihm Zuhören (und Beobachten) als Inbegriff des Lebens gelten, davon legt Canetti in diesem mittleren Band seiner Erinnerungen unter dem Titel „Die Fackel im Ohr“ eindrucksvoll Zeugnis ab; zahlreiche Passagen des Buches sind der Charakterisierung von Zeitgenossen gewidmet, denen er auf seinem Weg begegnet. Dabei geschieht jedoch Eigenartiges: Je mehr der Leser am Leben der den Autor umgebenden Gestalten teilhat, desto besser lernt er den Autor selbst kennen; der Autor spiegelt seine Welt, reflektiert über sie und seine Haltung zu ihr – und findet darüber mehr und mehr zu sich selbst.

Nach einem dreijährigen Intermezzo in Frankfurt am Main, wo Canetti sein Abitur ablegt, kehrt er nach Wien zurück und beginnt ohne echtes Interesse Chemie zu studieren. Freunde machen ihn auf die Vorlesungen des scharfzüngigen Literaturkritikers und Satirikers Karl Kraus aufmerksam, die er bald regelmäßig besucht. Dort lässt er sich in den Bann eines grandiosen Redners schlagen, der zugleich Autor des damals von vielen Intellektuellen geschätzten Antikriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit“ und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ ist. Canetti wird für einige Jahre zum leidenschaftlichen Anhänger Krausʼ. Weiterlesen

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