Gerhard Schreiber (Hg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften

Interdisziplinäre Zugänge zu einem schwierigen Thema

Transsexuality in Theology and Neuroscience – Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven. Findings, Controversies, and Perspectives, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2016 – www.degruyter.com

978-3-11-044080-5

Foto: Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston

Menschen, die sich der klaren Zuordnung zu einem Geschlecht entziehen, haben es nicht leicht. Die Gesellschaft ist stets bestrebt, jede, jeden und jedes entweder als weiblich oder männlich zu kategorisieren, und lässt Zwischenformen selten zu. Überaus deutlich wird dies im Falle der Transsexualität; dabei fühlen sich die Betroffenen nicht dem Geschlecht zugehörig, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde und dem sie rein äußerlich auch entsprechen mögen. Männer, die wie Männer aussehen, aber sich als Frauen fühlen, und umgekehrt Frauen, die eigentlich Männer sind – dies scheint auch eine liberale Gesellschaft wie die unsere immer noch vor schwere Probleme zu stellen, von patriarchalen Gesellschaften andernorts einmal ganz zu schweigen. Nach wie vor klagen Transsexuelle über sozialen Druck, über den Verlust ihres Arbeitsplatzes, über Pathologisierung und Intoleranz in mancherlei Schattierung, obwohl sich in den vergangenen Jahren wenigstens bei uns einiges an alten Vorurteilen gelöst hat.

2016 erschien ein Aufsatzband, der vor diesem Hintergrund aufmerken lässt: „Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften“, herausgegeben von dem evangelischen Theologen Gerhard Schreiber. Das 700-seitige Opus dokumentiert in teils deutscher, teils englischer Sprache einen interdisziplinären internationalen Kongress vom Februar 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt/Main – dort trafen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Theologie und Kirche, Neurophysiologie und Medizin, philosophischer Ethik, Sozialpädagogik, Kulturwissenschaft und Recht sowie nicht zuletzt Betroffene, um sich über ihre Zugänge und Einsichten zu Transsexualität auszutauschen. Ausnehmend bemerkenswert ist die Zusammenarbeit von Theologie und Naturwissenschaft in dieser Frage auch deshalb, weil gerade christliche Kirchen sich häufig sehr schwer damit tun, einen entspannten Umgang mit die Grenzen der Geschlechter überschreitenden Personen zu finden. Diese Zurückhaltung (oder nennen wir es Aversion) hat durchaus biblische Wurzeln, schuf doch Gott den Menschen zu seinem Bilde, als Mann und Frau, und trug ihm auf, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, wie es im ersten Kapitel des Buchs Genesis heißt. Weder die offizielle katholische Morallehre noch ein strikt an der Heiligen Schrift orientierter konservativer Protestantismus zeigen Sympathien für Menschen, die aus sexueller Neigung dem Zeugungsgebot nicht folgen wollen und zudem die Grenzen des bipolaren Geschlechtsmodells sprengen.

Insofern macht das Buch ausgesprochen neugierig. Bereits in seinem Vorwort lässt der Herausgeber erkennen, in welche Richtung es mit seinen 34 Beiträgen in 9 Sektionen tendiert: Transsexualität soll als vorwiegend biologisch verursachtes Faktum aufgefasst werden und keineswegs mehr wie in der Tradition als psychische Erkrankung, der allein mit psychotherapeutischen oder psychiatrischen Mitteln beizukommen sei. Im Gegensatz zu solcher „Psychopathologisierung“ versteht Schreiber Transsexualität nicht als Fehler, sondern als „Bereicherung in der Fülle menschlicher Wirklichkeit, wenngleich oft zunächst mit tiefem Leid […] verbunden“ (S. XV f.).

Bereicherung durch ein Aufsprengen der starren Geschlechterdichotomie – dieser Grundton zieht sich durch die Mehrzahl der vorlegten Beiträge, wobei die einzelnen Autorinnen und Autoren jedoch sehr unterschiedliche Akzente setzen. Für die Seite der Hirnforscher erläutert beispielsweise der US-Amerikaner Milton Diamond, dass sich im Mutterleib Gehirn und Genitalien in unterschiedlichen Phasen herausbildeten und Transsexualität das Resultat einer inkongruenten Entwicklung sei; er hatte schon in anderem Kontext das Gehirn als unser wichtigstes Sexualorgan bezeichnet. Horst-Jörg Haupt pflichtet dem bei und zieht praktische neurowissenschaftliche Verfahren dazu heran, um das subjektive Erleben insbesondere des transsexuellen Individuums als von außen nicht nachweisbar zu qualifizieren. Damit scheint er zu intendieren, was die Wiener Psychotherapeutin Cornelia Kunert deutlich direkter formuliert: das Ziel, den Anspruch von Gesetzgeber und Krankenkassen abzuwehren, die im Einzelfall einen vermeintlich objektiven Nachweis für Transsexualität seitens eines psychiatrischen Gutachters verlangen. Dem setzt Kunert die unhintergehbare Fähigkeit Transsexueller zur Erkenntnis entgegen, welchem Geschlecht sie tatsächlich zugehören – und reklamiert das Recht, solche Diskrepanz zwischen Körper und Seele mit operativen Mitteln beseitigen zu lassen. Dieser Gedanke führt zur politischen Forderung, dass Betroffene auch ohne als entwürdigend empfundene Gutachten, erzwungene Psychotherapie und „Alltagstests“ hormonelle Behandlung, geschlechtsangleichende Operation und Personenstandsänderung erhalten, um äußeres, genitales und inneres, gefühltes Geschlecht zur Deckung zu bringen. Ebenfalls dafür stark macht sich der andere der beiden Psychotherapeuten unter den Referenten, Kurt Seikowski, Universitätsklinik Leipzig, der Transsexualität als Normvariante menschlichen Daseins versteht und dafür plädiert, die Autonomie von Transpersonen deutlich stärker zu respektieren, als dies bislang geschieht.

Den Leidensdruck, unter dem Betroffene stehen können, spiegelt eindringlich der Beitrag der Theologin Karin Kammann wider – was noch unterstrichen wird von dem kräftigen bildhaften Vergleich heutiger Transsexueller mit antiken Leprakranken, den die Pfarrerin Dorothea Zwölfer in ihrer den Band beschließenden Predigt zieht. Etliche Autorinnen und Autoren werfen Blicke in andere Kulturen mit wechselhaften Resultaten: Doris Decker macht beispielsweise im Libanon eine schwierige Situation für Betroffene aus, Jean Lessenich schildert auf der anderen Seite die sehr spielerische Weise, mit der indigene nordamerikanische Völker ihre Geschlechtlichkeit auffassen. Erik Schneider und Caroline Haufe fordern eine entspannte und gewährende Haltung zu Phantasien und Wünschen transsexueller Kinder, dem anderen Geschlecht als dem äußerlichen zuzugehören – zugleich ebenfalls ein nachdrückliches Plädoyer für einen ungezwungenen Umgang mit Geschlechterrollen. Die Medizinhistorikerin Livia Prüll legt die Wurzeln bis heute wirksamer transphober Motive in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts offen. Ilka Wieberneit, die Betroffene in der Phase der geschlechtsangleichenden Operation seelsorgerlich begleitet, erzählt einfühlsam aus ihrem Erfahrungsschatz und warnt davor, die OP als Erlösung von allen Problemen zu stilisieren, denn so manche Aufgaben entstünden gerade erst danach. Und die Rechtsanwältin Laura Adamietz skizziert die juristische Umbruchsituation für Transsexuelle in Deutschland und formuliert konkrete Forderungen an den Gesetzgeber, darunter die Abschaffung der Begutachtungspflicht sowie einen wirksameren Schutz der Betroffenen vor Diskriminierung.

Doch was haben die wissenschaftlichen Theologen zu alldem zu sagen? Dirk Evers, Systematiker an der Universität Halle-Wittenberg, ordnet die Frage der Geschlechtlichkeit in einen Prozess der menschlichen Identitätsbildung ein, die keineswegs rein auf naturwissenschaftlich bestimmbaren Ursache-Wirkungsmechanismen beruhe, sondern vielmehr als lebenslange Aufgabe des Einzelnen zu sehen sei – ein deutlicher Seitenhieb auf die Erklärungsmodelle der Neurophysiologen. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nach dem Buch Genesis ist für Evers nicht von gewissen Eigenschaften oder einer normativen sexuellen Ausrichtung her zu verstehen, sondern zeigt sich in der Angewiesenheit auf den Dialog mit einem Gegenüber; erst in „der wechselseitigen Bezogenheit und in seiner sexuellen und geschlechtlichen Diversität entspricht der Mensch seinem Schöpfer“ (S. 479). Das Phänomen der Transsexualität sei ernst zu nehmen und könne im Übrigen dabei helfen, falsche Fixierungen in der christlichen Tradition aufzubrechen, vor allem die sehr alte Verbindung von Sexualität mit Sünde und Schuld. Peter Dabrock, theologischer Ethiker aus Erlangen, wendet sich gegen Bestrebungen, einzelne biblische Aussagen zur normativen Größe für sexuelles Verhalten aufzubauen. Stattdessen sieht er nach Galater 3,28 die Freiheit des Menschen in Christus über alle Unterschiede der sozialen und ethnischen Herkunft und des Geschlechts hinweg als biblische Kernbotschaft. Insofern könne nicht die Verdammung von Homosexualität in der Bibel (und, so ist hinzuzudenken, anderer Abweichungen von sexuellen Normen der heutigen Gesellschaft wie eben auch der Transsexualität) das letzte Wort sein; vielmehr sei die Liebe der von Gott geschaffenen und geliebten Menschen zueinander als das ausschlaggebende Kriterium für eine Einschätzung gelebter Sexualität im Lichte der Bibel zu sehen – ein Gedanke, den in ganz ähnlicher Weise auch der Freiburger katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff formuliert. Volker Jung, Präsident der Evangelischen Landeskirche Hessen-Nassau, sieht die Kirche schuldbelastet, weil sie nicht frei wählbare Geschlechtsorientierung und sexuelles Verhalten von Menschen moralisch negativ bewertet habe. Nicht allein die Zweigeschlechtlichkeit von Frau und Mann sei eine Gabe Gottes, auch andere Prägungen dürften sich als von Gott geschaffen sehen. Es gehe um „Akzeptanz und Würdigung“ (S. 562), aber auch um einen verantwortlichen Umgang der Betroffenen mit Sexualität.

Vonseiten der beteiligten Theologen ist also sehr viel Offenheit festzustellen – wesentliche Konfliktlinien verlaufen offenbar jedoch andernorts: Kein Psychoanalytiker war auf dem Frankfurter Kongress vertreten und konsequenterweise fehlen psychoanalytisch orientierte Beiträge im Buch völlig. Dabei hätte man sich als unbefangener Leser gewünscht, dass die psychische Dimension des Themas noch stärker als mit einigen Hinweisen zur geschlechtlichen Identitätsbildung bei den Theologen ausgeleuchtet worden wäre. Denn selbst wenn die Genese der Transsexualität tatsächlich allein auf biologisch-genetischen Faktoren beruht, so tangieren ihre Folgen eine Seele gleichwohl von klein auf. Kann vor einer so tiefgreifenden und irreversiblen Operation zur Geschlechtsumwandlung nicht ein professionell angeleiteter Blick in die Tiefen ebenjener Seele nur hilfreich sein? Insofern mag man den Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der Psychoanalyse und anderer psychotherapeutischer Verfahren an dieser Stelle vermissen, ohne gleich einer Psychopathologisierung der Betroffenen das Wort zu reden.

Solche Desiderate ändern jedoch nichts daran, dass der von Gerhard Schreiber vorgelegte Aufsatzband ein Meilenstein in der Aufarbeitung dieses besonderen Phänomens Transsexualität unter einer sehr vielseitigen interdisziplinären Perspektive darstellt. Er kreist um die einzig humane Leitfrage: Was dient dem leidenden Menschen? Dies macht seine Stärke und seinen Charme aus. Dass dabei noch Spielraum für Weiterentwicklungen bleibt, gehört zu einem ehrlichen und Lösungen eröffnenden Diskurs, dessen Fortsetzung und Ausweitung sehr zu wünschen ist.

Malte Heidemann

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