In unregelmäßiger Folge besprechen wir an dieser Stelle belletristische Werke – aktuelle wie auch bereits vor längerer Zeit erschienene Romane oder Kurzgeschichten. Entscheidend ist, dass wir sie weiterempfehlen können. Über Rückmeldungen zu unseren Rezensionen unter kontakt@textbaustelle-berlin.de freuen wir uns!

 


Von früher Wut und der Leidenschaft für Bücher – die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Elias Canetti

Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 342011 – www.fischerverlage.de

Cover Canetti Die gerettete Zunge

Foto: Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main

Elias Canetti gehört mit seinen Lebensdaten zu den Menschen, die sämtliche Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts bewusst miterlebt haben: Als 1905 Geborener war er bereits alt genug, um den Ersten Weltkrieg als Tragödie wahrzunehmen, und bei seinem Tod 1994 als fast 90-Jähriger wusste er noch um den Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges – ein Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts par excellence also. Schon allein deswegen spiegelt seine dreiteilige Autobiographie, die seine Erinnerungen bis zum Tod der Mutter im Jahr 1937 bewahrt, über alles Individuelle hinaus immer wieder auch ihren zeitgeschichtlichen Hintergrund.

Im Mittelpunkt des ersten Bands „Die gerettete Zunge“ (dem später „Die Fackel im Ohr“ und „Das Augenspiel“ folgten) steht zunächst jedoch das wechselvolle Schicksal der jüdischen Kaufmannsfamilie mit einigen gründlichen Ortswechseln: Eliasʼ Geburtsort Ruse am bulgarischen Donauufer verlässt sie 1911 in Richtung Manchester, um dem tyrannischen Großvater väterlicherseits zu entfliehen. Nach dem plötzlichen und viel zu frühen Tod des geliebten Vaters siedelt die Mutter mit ihren drei Kindern 1913 zunächst nach Wien über, 1916, im Krieg, dann nach Zürich. Dort verbringt der Junge prägende und glückliche Jahre, in denen sich sein Interesse an der Literatur weiter festigt und verstärkt.

Seine Neugier, ja Gier nach den Geheimnissen, die die Buchstaben in sich bergen, tritt schon früh und heftig zutage, als er als Fünfjähriger seine ältere Cousine Laurica immer wieder bittet, sie solle ihm ihr Schulheft mit den Schreibübungen zeigen. Stets weigert sie sich und als sie ihn eines Tages auch noch verspottet, nimmt Elias eine Axt und geht mit den Worten, er werde Laurica töten, auf sie los. Im letzten Moment stürzt sich der Großvater dazwischen und verhütet das Unfassbare. Für den Anschlag rächt sich das Mädchen und stößt Elias bei nächster Gelegenheit in einen Kessel mit heißem Wasser – schreckliche Schmerzen und wochenlange Rekonvaleszenz sind die Folge. Jedenfalls erkennt der Vater diese Passion für das geschriebene Wort und fördert sie gezielt: Er ist es, der seinem ältesten Sohn, kaum dass der lesen kann, regelmäßig Bücher mitbringt und mit ihm täglich darüber spricht.

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Elias Canetti. Foto: Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO), 1945–1989

Die dramatische Episode macht deutlich, dass es Canetti keineswegs darum geht, eine goldene Vergangenheit zu beschwören, sondern zutiefst aufrichtig über seine Erlebnisse, Konflikte und Ängste Rechenschaft abzulegen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Schilderung seiner ambivalenten Beziehung zur Mutter, einer gebildeten und stolzen Frau, der es gelingt, das glühende Interesse des Jungen an der Literatur weiter anzustacheln. Gemeinsam lesen sie Werke der Weltliteratur und diskutieren darüber; und die Mutter bringt ihm kurz vor dem Umzug nach Wien die deutsche Sprache bei, die ihm bald zur Heimat werden und in der er schreiben wird. Dass sie dabei pädagogisch wenig zartfühlend, ja regelrecht rabiat vorgeht, verunsichert den Heranwachsenden zunächst, weckt dann aber seinen Ehrgeiz. Ihm ist die Vorstellung, vor seiner Mutter Schwäche zu zeigen und sie zu enttäuschen, ein Gräuel. Auf der anderen Seite wacht er, wie er unumwunden einräumt, höchst eifersüchtig darüber, dass ihr niemand zu nahe kommt und ihm seinen Platz bei ihr streitig macht. Dies muss insbesondere ein Universitätsdozent, zugleich der Leiter des Sanatoriums, in dem sich die Mutter wegen ihres labilen Gesundheitszustands behandeln lässt, leidvoll erfahren, denn er wagt es, ihr den Hof zu machen: Ihn verfolgt der Junge „mit einem Haß, wie ich ihn noch nie gekannt hatte“. Schließlich schlägt das Kind den stets mit einem leicht despektierlichen Unterton so genannten „Herrn Dozenten“ aus dem Feld und kann die Mutter für sich behalten.

Canetti erzählt zahlreiche solcher Anekdoten und Begebenheiten mit scharfer Beobachtungsgabe in einem feinen Stil. Dabei gelingt es ihm, die auftretenden Charaktere, seien es Verwandte, Schulkameraden, Lehrer oder Ärzte, sehr plastisch und eindrucksvoll zu schildern, sodass ein kurzweiliges und bisweilen amüsantes Bild seiner frühen Lebensjahre entsteht. Auch wenn der historische und kulturelle Hintergrund in diesem ersten Band keine dominante Rolle spielt, so blitzt er doch immer wieder auf, etwa bei der Beschreibung jüdischen Lebens in Bulgarien oder der Welt der Wiener Kultur. Eindrucksvoll sind Reaktionen von Zeitgenossen auf das Kriegsgeschehen wiedergegeben. So trägt der in Wien vorherrschende Chauvinismus einiges dazu bei, dass die Familie schon bald in die Schweiz weiterzieht, wo die Menschen generell eine andere Haltung zu den damaligen Machtkonflikten einnehmen. Canetti selbst entwickelt angesichts des Kriegsinfernos, gelegentlicher antisemitischer Erlebnisse und der dezidiert pazifistischen Haltung seiner Mutter eine tiefe Abneigung gegen Feindbilder, Ausgrenzung und Gewalt. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen machen nachvollziehbar, wie aus einem explosiven Knirps mit Axt der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1981 werden konnte. Zugleich sind sie genussvoll zu lesen.

Malte Heidemann

 


Behutsame Auseinandersetzung mit dem RAF-Terrorismus

Bernhard Schlink: Das Wochenende, Diogenes Verlag, Zürich 2008/2010 – www.diogenes.ch

Cover Schlink, Wochenende 72dpiDem Romanautor Bernhard Schlink gelingt es immer wieder, sich gesellschaftlichen Reizthemen auf eine sehr sensible Weise zu nähern. Nach seinem mehrfach preisgekrönten Werk „Der Vorleser“, einer Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit im Spiegel einer tragischen Liebesgeschichte, legte er 2008 den Roman „Das Wochenende“ vor. Darin beschäftigt er sich mit dem Terrorismus der RAF, der Westdeutschland in den 60er- und 70er-Jahren erschüttert hat:

Der Terrorist Jörg, der wegen vierfachen Mordes 23 Jahre Haft verbüßt hat, wird vom Bundespräsidenten überraschend begnadigt. Seine ältere Schwester Christiane, die ihm seit dem Tod der Mutter diese stets zu ersetzen versucht hat, arrangiert zusammen mit ihrer Freundin Margarete in ihrem gemeinsamen Haus im Brandenburgischen ein Wochenende mit alten Freunden und einstigen Sympathisanten; sie möchte ihm den Start in die Zeit nach dem Gefängnis möglichst angenehm gestalten. Dabei treffen sehr unterschiedliche Typen aufeinander, die bis auf eine Ausnahme alle eint, dass sie in bürgerlichen Berufen angekommen sind: Karin, Bischöfin einer kleinen evangelischen Landeskirche, Ulrich, der eine erfolgreiche Dentallabor-Kette betreibt, die schriftstellernde Lehrerin Ilse, der Topjournalist Henner, der deutlich jüngere Marko, der Jörg bewundert und ihn zum weiteren Kampf gegen Staat und Gesellschaft animiert, sowie Jörgs Anwalt Andreas, der seinem Mandanten gerade den revolutionären Zahn ziehen will. Aus dieser Konstellation heraus entwickelt sich schnell eine ungemein dichte Atmosphäre, in der alte Rechnungen wieder auf den Tisch kommen und neue Konflikte sich zusammenbrauen. Die Protagonisten schreiten an diesem Wochenende das gesamte Arsenal an Fragen ab, das der Terrorismus aufwirft: Wo verläuft die Grenze zwischen angemessener Opposition gegen den Staat und sinnloser Gewalt? Hat der Tod von hohen Repräsentanten des Staates die revolutionäre Sache vorangetrieben? Sind die RAF-Morde denen des Nationalsozialismus nicht vielleicht doch ähnlicher, als sich die Täter das vorgestellt haben? Hat Jörg für seine Taten „bezahlt“? Eine nochmalige Zuspitzung erfährt die Situation, als Jörgs Sohn Ferdinand unvermutet die Szene betritt und seinen Vater schonungslos mit sich selbst konfrontiert.

Bernhard Schlink hat ein Werk geschaffen, das erneut ganz heikle Fragen auf eine sehr feine und bedächtige Art angeht. In bisweilen schlichter, bisweilen aber auch hoch poetischer Sprache spürt er seinen mitunter wenig zart besaiteten Charakteren nach, leuchtet ihre Motive aus und nimmt seine Leser in den Prozess ihres Nachdenkens mit hinein. Schlinks anregende Reflexionen über den Terrorismus haben unbestreitbar auch einen aktuellen Kontext.

Malte Heidemann