Kategorie-Archiv: Sachbücher

An dieser Stelle veröffentlichen wir in unregelmäßiger Folge Empfehlungen anregender Sachbücher aus verschiedenen Wissensbereichen. Dies können neue, aktuelle Bücher sein, aber durchaus auch Werke, die schon vor längerer Zeit erschienen sind. Entscheidend ist ihre Verständlichkeit für Laien - und dass wir sie guten Gewissens weiterempfehlen können. Wir freuen uns über Rückmeldungen und Kommentare unserer Leserinnen und Leser!  
 

Katja Gloger: Fremde Freunde

Zwischen Faszination und Hass – ein Panorama der wechselvollen deutsch-russischen Geschichte

Deutsche und Russen. Die Geschichte einer schicksalhaften Beziehung, Berlin Verlag, München 2017 – www.berlinverlag.de

Foto: Berlin Verlag

Spätestens seit der Besetzung der Krim und dem Krieg in der Ostukraine hat Russland im Westen einen ausgesprochen schweren Stand. Vorwürfe, von der Regierung bezahlte russische Hacker würden westliche Wahlen beeinflussen, der Staat die Sportler des Landes systematisch mit Doping versorgen und andere Verdachtsmomente tun ihr Übriges dazu. All dies macht Russland fast schon zu einem Paria der internationalen Gemeinschaft und ähnelt dem Feindbild, das während des Kalten Krieges von der Sowjetunion in der westlichen Welt vorherrschte. Angesichts dieser Lage lässt das neueste Buch der früheren Stern-Korrespondentin in Moskau, Katja Gloger, aufmerken: Sie entfaltet mehr als tausend Jahre gemeinsamer Geschichte von Deutschen und Russen und schreitet dabei die entscheidenden Schnitt- und Wendepunkte ab. Aus diesem Ansatz ist ein höchst anregendes, flüssig geschriebenes, wegen der Schwere der Thematik in den letzten hundert Jahren gleichwohl auch nicht immer leicht zu lesendes Kaleidoskop entstanden: Die Autorin erzählt Anekdoten ebenso wie die großen historischen Entwicklungen, beleuchtet politische, wirtschaftliche wie auch kulturelle Verbindungen und schildert menschliche Einzelschicksale mit Fingerspitzengefühl. Im Lauf dieses Jahrtausends wechselten sich Interesse, Neugier, Faszination von Russen und Deutschen aneinander wie auch Krieg, Verachtung und Hass aufeinander ab, was das Buch gelungen thematisiert. Eingebettet in die Darstellung sind Interviews mit den Staatsmännern Michail Gorbatschow, Gerhard Schröder und Joachim Gauck sowie dem Zeitzeugen Daniil Granin.

Blick über Sankt Petersburg. Foto: textbaustelle Berlin

Dabei zeigt Frau Gloger, dass Russland zu verstehen ganz und gar nicht bedeuten muss, auch die nationalistische Politik Wladimir Putins gutzuheißen. Immer wieder zeigt sie ihre tiefe Zuneigung zu Land und Leuten – aber ebenso lässt sie keinen Zweifel daran, wie sie den Kurs der gegenwärtigen Regierung im Kreml einschätzt: als einen großen Irrweg, der Russland immer weiter vom Westen entfremdet. Auf der anderen Seite scheint sie gleich im ersten Kapitel über Gorbatschow und den Mauerfall ein starkes Motiv für russische Aversionen gegen den Westen nicht recht gelten zu lassen: Wenn es 1989/90 tatsächlich mehrfache mündliche Zusagen westlicher Politiker an die sowjetische Regierung gegeben hat, die damals wie heute in Russland verhasste Nato werde sich nicht weiter nach Osten ausdehnen, so kann das eingetretene Gegenteil dessen als Vertrauensbruch empfunden werden – selbst wenn sich Gorbatschow die Zusagen nicht hat vertraglich bestätigen lassen, bevor er sein Einverständnis zur Aufnahme des wiedervereinigten Deutschland in die Nato gab. Wieder auf einem anderen Blatt steht, dass Putin die Nato-Osterweiterung explizit als Begründung für den Krieg in Georgien 2008 und die Besetzung der Krim 2014 missbraucht hat.

Russische Erinnerung an den “Großen Vaterländischen Krieg”: Gedenkstätte in Prochorowka südlich von Kursk, wo sich 1943 die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkriegs ereignete. Foto: textbaustelle Berlin

Im Hinblick auf das frühere 20. Jahrhundert benennt Katja Gloger schonungslos Verbrechen, die beide Völker einander angetan haben: So schildert sie eindringlich die bestialische Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg durch die Wehrmacht, die das Ziel verfolgte, drei Millionen Menschen dem Hungertod preiszugeben, und verschweigt auch nicht den ungezügelten Hass, den die siegreiche Rote Armee auf deutschen Boden trug und der zu einer Orgie an Gewalt führte. Immer wieder hebt sie aber auch das Schöne hervor, mit dem Menschen dem Widrigen, ja Widerwärtigen trotzten, so etwa als das Leningrader Rundfunkorchester im November 1941 bei bitterer Kälte Beethovens neunte Sinfonie in der Philharmonie der Stadt spielte.

Nein, Einseitigkeit der Geschichtsbetrachtung wird man der Autorin mit Sicherheit nicht vorwerfen können. Wenn es denn so ist, dass nur die Wahrheit heilt, dann wäre dies eigentlich genau der Weg, um sich gemeinsam von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Selbst in Zeiten, in denen jeder seine eigene Wahrheit kreiert, wird am Ende das Leugnen dessen, was geschehen ist, wenig ausrichten. Hier läge der Keim für eine gemeinsame Zukunft – wenn nicht Russland und der Westen so weit auseinanderdriften würden, wie es im Moment der Fall ist. Diese Entwicklung mögen wohlmeinende Betrachter als ausgesprochen schmerzhaft empfinden. Und dennoch: Der Staat ist nicht alles, auch in Russland nicht, und so bleibt immer noch die Möglichkeit, ins Land zu reisen und die Begegnung mit dieser fremden und zugleich nahen Welt zu suchen.

Malte Heidemann

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Gerhard Schreiber (Hg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften

Interdisziplinäre Zugänge zu einem schwierigen Thema

Transsexuality in Theology and Neuroscience – Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven. Findings, Controversies, and Perspectives, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2016 – www.degruyter.com

978-3-11-044080-5

Foto: Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston

Menschen, die sich der klaren Zuordnung zu einem Geschlecht entziehen, haben es nicht leicht. Die Gesellschaft ist stets bestrebt, jede, jeden und jedes entweder als weiblich oder männlich zu kategorisieren, und lässt Zwischenformen selten zu. Überaus deutlich wird dies im Falle der Transsexualität; dabei fühlen sich die Betroffenen nicht dem Geschlecht zugehörig, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde und dem sie rein äußerlich auch entsprechen mögen. Männer, die wie Männer aussehen, aber sich als Frauen fühlen, und umgekehrt Frauen, die eigentlich Männer sind – dies scheint auch eine liberale Gesellschaft wie die unsere immer noch vor schwere Probleme zu stellen, von patriarchalen Gesellschaften andernorts einmal ganz zu schweigen. Nach wie vor klagen Transsexuelle über sozialen Druck, über den Verlust ihres Arbeitsplatzes, über Pathologisierung und Intoleranz in mancherlei Schattierung, obwohl sich in den vergangenen Jahren wenigstens bei uns einiges an alten Vorurteilen gelöst hat.

2016 erschien ein Aufsatzband, der vor diesem Hintergrund aufmerken lässt: „Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften“, herausgegeben von dem evangelischen Theologen Gerhard Schreiber. Das 700-seitige Opus dokumentiert in teils deutscher, teils englischer Sprache einen interdisziplinären internationalen Kongress vom Februar 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt/Main – dort trafen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Theologie und Kirche, Neurophysiologie und Medizin, philosophischer Ethik, Sozialpädagogik, Kulturwissenschaft und Recht sowie nicht zuletzt Betroffene, um sich über ihre Zugänge und Einsichten zu Transsexualität auszutauschen. Weiterlesen

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Andreas Englisch: Der Kämpfer im Vatikan

Die Kirche und ihre Erblasten

Papst Franziskus und sein mutiger Weg, 7. Auflage, C. Bertelsmann Verlag, München 2015/2016 – www.randomhouse.de/verlag/C.-Bertelsmann/3000.rhd

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Foto: Verlag C.Bertelsmann, München

Als ich für eigene Recherchen über die Konfliktlinien innerhalb der katholischen Kirche das neueste Werk von Andreas Englisch über den „Kämpfer im Vatikan“ in die Hand nahm, war ich ausgesprochen skeptisch. Nicht zuletzt aufgrund einiger Talkshowauftritte erwartete ich von dem ehemaligen Korrespondenten des Springer-Verlages in Rom nicht mehr als Hofberichterstattung im negativsten Sinne. Dass er ein packendes Buch über Papst Franziskus geschrieben hat, in dem er erfrischend klare Kante zeigt und die Opposition gegen den Argentinier aus dem Inneren der Kurie heraus beleuchtet, hat mich dann doch sehr positiv überrascht.

Das Werk lässt kaum ein heißes Eisen aus, das es derzeit im Vatikan geben mag. Vom sogenannten Vatileaks-Skandal und dem Rücktritt Benedikts XVI. über die seit Jahrzehnten dubiose Rolle der Vatikanbank bis hin zu aktuellen Streitfragen über den theologischen und politischen Kurs der Kirche – Englisch hat den Mut, die Konflikte, die Franziskus derzeit mit seiner Kurie offenbar mit harten Bandagen ausficht, nachzuzeichnen und dabei selbst nicht mit seiner Meinung über den Berg zu halten. Weiterlesen

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Thomas de Padova: Das Weltgeheimnis. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels

Wenn zwei Genies aneinander vorbeireden

Cover de Padova Weltgeheimnis

Foto: Piper Verlag, München

Piper Verlag, München, Berlin, Zürich, 6. Auflage 2015 – www.piper.de

Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive sind die knapp zwei Jahrhunderte zwischen der Entdeckung der Sonne als Mittelpunkt unseres Planetensystems durch Kopernikus und Newtons Nachweis des Gravitationsgesetzes ein Füllhorn: Der Astronomie ist es damals gelungen, den Blick ins Universum zu weiten und die Stellung der Erde und des Menschen im Ganzen völlig neu zu definieren. Erheblichen Anteil daran genießen zwei Zeitgenossen, der Florentiner Galileo Galilei (* 1564) und der Schwabe Johannes Kepler (* 1571), der die entscheidenden Jahre seines Schaffens in Prag verbrachte. Ihnen hat Thomas de Padova sein Buch „Das Weltgeheimnis“ gewidmet, das beider Leben und Werk darstellt und würdigt, ihren bislang wenig bekannten Briefwechsel auswertet und nebenbei ganz unaufdringlich das Panorama jenes komplexen Zeitalters aufspannt.

De Padova schildert Galilei als genialen Entdecker, der empirische Beobachtung und wissenschaftliche Theorie auf Engste miteinander verknüpft und darüber die Grenzen der Erkenntnis ständig ausgedehnt hat; als brillanter Redner wusste er sich zugleich geschickt zu inszenieren. Der vom Schicksal immer wieder gebeutelte Kepler erscheint dagegen als bescheidener, ja von Selbstzweifeln gequält, obwohl er in Jahren mühevoller Kleinarbeit eine gigantische wissenschaftliche Leistung erbracht hat: die Berechnung der elliptischen Planetenbahnen.

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Sonja Bill: Tadschikistan

Instruktiver Leitfaden in eine abgelegene Welt

Trescher Verlag, 1. Auflage, Berlin 2010 – www.trescher-verlag.de

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In der tadschikischen Pamir-Region. Foto: textbaustelle Berlin

Normalerweise ist ein fünf Jahre alter Reiseführer nichts, was noch der Beachtung, geschweige denn einer Rezension wert wäre. In diesem Fall verhält es sich mit der Frage der Aktualität jedoch ein wenig anders. Denn die ehemalige Sowjetrepublik Tadschikistan im Herzen Asiens gehört – um es einmal vorsichtig auszudrücken – in der Regel nicht gerade zu den ersten Reisezielen, die sich Fernwehgeplagte aus der westlichen Welt zur Stillung ihrer Sehnsucht auswählen. Dabei hat das kleine Land, das seit dem Ende eines verheerenden Bürgerkriegs in den 90er-Jahren politisch halbwegs stabil ist (und das trotz seiner Nachbarschaft zum Dauerkrisenherd Afghanistan), Reisenden üppigen Reichtum zu bieten: ebenso herbe wie faszinierende Hochgebirgslandschaften, eine von persischen, mongolischen, türkischen, russischen und fernöstlichen Einflüssen geprägte Kultur, eine propere Hauptstadt sowie eine geradezu frappierende Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen. Weiterlesen

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Stephan Bierling: Vormacht wider Willen

Deutsche Außenpolitik zwischen Zaghaftigkeit und globaler Verantwortung

C.H.Beck, München 2014 – www.chbeck.de

Cover Bierling

Foto: Verlag C.H.Beck, München

Wann wird die Politik von heute eigentlich zu dem, was wir als „Geschichte“ bezeichnen? Kann erst die nächste Generation die Geschichte der augenblicklichen Gegenwart schreiben, weil erst sie die vergangene Epoche als Ganze überblicken kann? Oder kann der heutige Tag bereits morgen Gegenstand der Geschichtsschreibung sein? Das ist eine spannende und sicher auch diskutierbare Frage, die sich dem Leser von Stephan Bierlings Buch „Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart“ gelegentlich stellen mag. Denn der Regensburger Politologe unternimmt hier einen ausgesprochen anregenden Versuch, auf einem sehr heiklen Gebiet deutscher Politik die Grenzen von Geschichtsschreibung, Gegenwartsanalyse und Journalismus zu überschreiten.

Bierling holt den Leser an einem Punkt ab, den man mittlerweile zweifelsfrei als „Geschichte“ wird bezeichnen können, Mauerfall und Wiedervereinigung, und entfaltet von da aus die außenpolitischen Problemlagen, Entwicklungen und Entscheidungen samt den charakteristischen Schwerpunkten der deutschen Regierungen seither. Er gliedert seine Darstellung nach den Kanzlerschaften von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel in drei Hauptkapitel plus Einleitung und Schluss und gestaltet innerhalb der großen Abschnitte einzelne Themenblöcke. Weiterlesen

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John Bossy: Agent der Königin

Der Philosoph als Spion? Giordano Bruno und der englische Geheimdienst

Klett-Cotta, Stuttgart 1995 – www.klett-cotta.de

Originalausgabe: Giordano Bruno and the Embassy Affair, Yale University Press, New Haven/London 1991

Cover Bossy

Repro: Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

Das Schicksal Giordano Brunos bewegt bis heute. Der Dominikanermönch aus Nola bei Neapel entfloh seinerzeit seinem Orden, weil ihm wegen kritischer Haltungen in Fragen der kirchlichen Lehre ein Prozess bevorstand, und begab sich auf eine Irrfahrt durch halb Europa, die erst mit seiner Gefangennahme in Venedig 1592 enden sollte. In diesen sechzehn Jahren des unsteten Lebens verfasste Giordano Bruno eine Reihe von Schriften, die ihn als einen der außergewöhnlichsten Denker in der europäischen Geistesgeschichte zeigen, aber auch in einen unversöhnlichen Gegensatz zur römischen Kirche brachten. Denn Bruno verteidigte nicht nur das damals revolutionäre Weltbild des Nikolaus Kopernikus, wonach sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, sondern ging sogar noch deutlich darüber hinaus: Das Weltall galt ihm als unendlicher Raum, in dem eine unendliche Zahl an Welten wie die unsere mit unendlichen Möglichkeiten an Lebensformen in einem ständigen Prozess der Veränderung begriffen ist. Aus diesem Denkmodell folgten etliche Lehrsätze, die sich kaum noch mit einem christlichen Weltbild vereinbaren ließen; insbesondere für einen universalen Erlöser, der am Kreuz stirbt, war darin kein Raum. Nach einem Inquisitionsverfahren, das sich über zermürbende acht Jahre hingezogen hatte, verbrannte die Kirche den Unbequemen im Februar 1600 in Rom wegen Ketzerei.

Angesichts dieser durchaus bekannten Geschichte war das 1991 erschienene Buch „Giordano Bruno and the Embassy Affair“ des englischen Historikers John Bossy eine gewaltige Überraschung und erregte im angelsächsischen Raum einiges Aufsehen.  Weiterlesen

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