Eine jüdische Perspektive auf den vermeintlichen Erzverräter
Judas. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 3. Auflage, Berlin 2017 – www.suhrkamp.de
Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Patmos Verlag, 6. Auflage, Ostfildern 2022 – www.patmos.de
Für die traditionelle Sicht des christlichen Abendlandes auf die Gestalt des Judas, des Verräters Jesu Christi, mag ein grausiges Bild aus der „Göttlichen Komödie“ des Dante Alighieri aus dem frühen 14. Jahrhundert stehen: Im ersten Teil, dem „Inferno“, der Reise des Autors an der Seite des römischen Dichters Vergil durch die Hölle, steckt Judas tief im Erdinnern kopfüber in einem der drei Mäuler Luzifers. Dort wird er von dem Fürsten der Finsternis und Personifizierung des Bösen schlechthin auf ewig zermalmt. Verrat galt Dante wie auch der mittelalterlichen Tradition generell als das schwerste, nicht mehr zu überbietende Verbrechen, er bedeutete Niedertracht, Untreue und im Falle des Judas speziell Beihilfe zum „Gottesmord“. Für das Judentum hatte die im Neuen Testament dargestellte Rolle des Judas bei der Hinrichtung Jesu Christi die verheerendsten Konsequenzen. Pogrome, Unterdrückung und Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung ließen sich damit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein rechtfertigen – denn schon die Namen „Jude“ und „Judas“ sind sich zum Verwechseln ähnlich. Dies hat der israelische Schriftsteller Amos Oz in einem Essay unter dem Titel „Jesus und Judas“ aus dem Jahre 2017 mit einem kräftigen Vergleich auf den Punkt gebracht: „In meinen Augen ist die Geschichte von Judas in den Evangelien gleichsam das Tschernobyl des christlichen Antisemitismus der vergangenen zweitausend Jahre. Diese Geschichte verseucht das Verhältnis zwischen Juden und Christen seit Jahrtausenden, indem sie die Juden zu Opfern und die Christen zu Tätern macht.“ Der kleine Band bietet einige Erläuterungen des 2018 verstorbenen Oz zu seinem letzten Roman „Judas“, der im hebräischen Original 2014 und im Jahr danach in deutscher Übersetzung erschien. Weiterlesen