Volker Kutscher: Der nasse Fisch

Schaurige Morde im Berlin der Zwanzigerjahre

Gereon Raths erster Fall, 46. Auflage, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016 – www.kiwi-verlag.de

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Foto: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Frühjahr 1929. Gereon Rath, bis vor Kurzem Kriminalkommissar in Köln, ist nach Berlin ins Sittendezernat versetzt worden, weil er für den Tod eines Verdächtigen verantwortlich sein soll. Diese Degradierung trägt er mit Fassung, er beginnt, sich mit seiner neuen Umgebung vertraut zu machen und das wilde, ungezügelte Leben der Reichshauptstadt jener vermeintlich „Goldenen“ Zwanzigerjahre kennenzulernen. Bald wird ein Russe im Landwehrkanal aufgefunden, es stellt sich heraus, dass der Mann nicht ertrunken ist, sondern als bereits grausam zugerichteter Toter in ein Auto gesetzt wurde, das in den Kanal stürzte. Da Rath wenige Nächte zuvor unliebsame Bekanntschaft mit dem späteren Mordopfer gemacht hat, das betrunken und lautstark Raths ebenfalls russischen Vormieter suchte, beginnt der noch unausgelastete neue Sittenwächter nebenbei Erkundigungen über die Beteiligten einzuziehen. Unvermutet stößt er auf eine heiße Fährte und verschafft sich einen klaren Wissensvorsprung gegenüber der eigentlich ermittelnden Mordkommission – für ihn allemal spannender, als Pornoproduzenten zu jagen oder illegale Nachtklubs hochzunehmen. Als er sich dann auch noch in die hübsche Charly, Stenotypistin bei der Kripo, verliebt, gelingt es ihm ganz locker, sich beiläufig, aber regelmäßig über den offiziellen Ermittlungsstand in diesem mysteriösen Mordfall zu informieren, und dennoch auch privat nicht ganz einsam zu sein. Dass Rath sich damit bei Charly reichlich unbeliebt macht und er bei seinen Privatrecherchen zudem in ganz schön heikle Situationen gerät, wird ihm erst allmählich klar. Die Todesfälle häufen sich und auch sein eigenes Leben wird bedroht …

Volker Kutscher hat mit Gereon Rath einen ausgesprochen markanten Charakter kreiert: Schwerenöter, Herzensbrecher und zugleich scharfsinnige Schnüffelnase mit vorzüglichen Kontakten, die fast alles andere hinter ihren Recherchen zurückstellt. Rath lädt den Leser gewinnend dazu ein, ihm auf seinen verschlungenen Wegen zu folgen, 2016 ist bereits sein sechster Fall erschienen. Dass er uns manchmal sehr vertraut vorkommt und vielleicht sogar noch besser ins frühe 21. Jahrhundert passen würde als in die verrückten Zwanziger des letzten, sei dem Autor zugestanden. Immerhin hat Kutscher ein imposantes zeit- und mentalitätsgeschichtliches Gemälde erschaffen, das glatt als Realität durchgehen könnte: eine geradezu morbide Lebensgier wie auch eine Sucht nach Selbstzerstörung bei etlichen nachtaktiven Gestalten, verbreitete materielle Armut, gepaart mit einer hohen Kriminalitätsrate, Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Polizei und hinter allem der allmählich heraufziehende Nationalsozialismus, der sich bereits vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Herbst ebenjenes Jahres 1929 deutlich vernehmen lässt. Vor diesem Hintergrund entspinnt sich eine klug konzipierte Story, in der Exilanten aus Stalins Sowjetunion eine entscheidende Rolle spielen und die bis zuletzt immer wieder überraschende Wendungen bereithält. Es gelingt nur schwer, das Buch vor der letzten Seite aus der Hand zu legen – untrügliches Zeichen für einen richtig guten Krimi.

Malte Heidemann

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