Elias Canetti: Die Fackel im Ohr

Auf der Suche nach Identität

Lebensgeschichte 1921–1931, Fischer Taschenbuch Verlag, 23. Auflage, Frankfurt am Main 2005 – www.fischerverlage.de

Cover Canetti Fackel im Ohr

Foto: Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main

An einer Stelle des zweiten Teils seiner Autobiographie lässt Elias Canetti wie beiläufig einen Schlüsselsatz für das Verständnis seiner Person und seines Werks fallen: Er habe immer gerne zugehört, wenn andere Menschen von sich sprächen, „diese scheinbar ruhige, passive Neigung ist so heftig, daß sie meine innerste Vorstellung von Leben ausmacht. Tot werde ich sein, wenn ich nicht mehr höre, was mir einer von sich erzählt“ (S. 262). Wie sehr ihm Zuhören (und Beobachten) als Inbegriff des Lebens gelten, davon legt Canetti in diesem mittleren Band seiner Erinnerungen unter dem Titel „Die Fackel im Ohr“ eindrucksvoll Zeugnis ab; zahlreiche Passagen des Buches sind der Charakterisierung von Zeitgenossen gewidmet, denen er auf seinem Weg begegnet. Dabei geschieht jedoch Eigenartiges: Je mehr der Leser am Leben der den Autor umgebenden Gestalten teilhat, desto besser lernt er den Autor selbst kennen; der Autor spiegelt seine Welt, reflektiert über sie und seine Haltung zu ihr – und findet darüber mehr und mehr zu sich selbst.

Nach einem dreijährigen Intermezzo in Frankfurt am Main, wo Canetti sein Abitur ablegt, kehrt er nach Wien zurück und beginnt ohne echtes Interesse Chemie zu studieren. Freunde machen ihn auf die Vorlesungen des scharfzüngigen Literaturkritikers und Satirikers Karl Kraus aufmerksam, die er bald regelmäßig besucht. Dort lässt er sich in den Bann eines grandiosen Redners schlagen, der zugleich Autor des damals von vielen Intellektuellen geschätzten Antikriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit“ und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ ist. Canetti wird für einige Jahre zum leidenschaftlichen Anhänger Krausʼ.

Am Rande der Vorlesungen lernt er seine spätere Frau Veza kennen, deren orientalisches Aussehen ihn von Anfang an fasziniert. Mit der Zeit entsteht eine tiefe und zunächst rein intellektuell geprägte Freundschaft, die ihnen Kraft gibt für schwere persönliche Auseinandersetzungen, die beide zu bestehen haben. Denn bevor der junge Canetti ein selbstbestimmtes Leben führen kann, muss er sich, wie er es uns aus späterer Perspektive darstellt, aus der einengenden Vormundschaft seiner Mutter befreien. Im Gegensatz zum Bild einer geistreichen und verantwortungsbewussten Frau, das er im ersten Band von ihr gezeichnet hat, schildert er sie nun als verhärtet und missgünstig. So versucht sie aus vermeintlich finanziellen Gründen im letzten Moment einen Wanderurlaub des Zwanzigjährigen mit einem Freund zu unterbinden, auf den er sich längere Zeit gefreut hat; Veza überschüttet sie in Briefen an den Sohn mit bitter eifersüchtigen und hasserfüllten Tiraden, obwohl sie sie noch gar nicht persönlich kennengelernt hat. Elias gelingt es, sich der Mutter mit List, Geschick und einmal auch einem offenen Wutausbruch nach und nach zu entziehen, wenngleich er auf ihren Wunsch sein ungeliebtes Chemiestudium zu Ende führt. Entscheidendes ereignet sich ohne sie: In jenem Urlaub in den Bergen, den er dann doch antreten kann, setzt er sich vor dem Hintergrund eigener prägender Erfahrungen mit dem Phänomen der Menschenmasse auseinander und gelangt in Abgrenzung zu Sigmund Freud zu einem deutlich positiveren Urteil darüber. Von da an wird ihn das Thema beschäftigen, bis hin zu seinem umstrittenen Werk „Masse und Macht“, das erstmals im Jahr 1960 erscheint.

1928 folgt Canetti einer Freundin nach Berlin und arbeitet dort einen Sommer lang als Übersetzer für den Malik-Verlag. Sein Verleger Wieland Herzfelde führt ihn in die Künstler- und Literatenkreise der Stadt ein und macht ihn mit Prominenten wie Brecht, Grosz und anderen bekannt. Diese Berliner Monate, denen im Jahr danach noch einmal sechs Wochen folgen, stürzen den jungen Canetti jedoch in tiefe Verwirrung, aus der er sich erst wieder mit ebenso einsamen wie mühevollen Reflexionen zurück im beschaulichen Wien befreien kann. Seinen von den Berliner Eitelkeiten, der Gier, dem Chaos in Unordnung geratenen Geist sammelt er, indem er schreibt und acht fiktive Gestalten mit je einer ins Extreme gesteigerten Eigenschaft kreiert. Aus dieser „Comédie Humaine an Irren“ (S. 300) bleibt am Ende eine Figur übrig, der lebensuntüchtige Büchersammler, der in seiner Bibliothek verbrennt und dessen Geschichte Canetti bald danach im Roman „Die Blendung“ erzählen wird. Für dieses Werk erhält er später den Literaturnobelpreis.

„Die Fackel im Ohr“ ist ein höchst anregendes Lebens- und Zeitbildnis der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, das den Leser zugleich den geistigen Weg Elias Canettis nachvollziehen lässt und frühe Motive für seine beiden Hauptwerke freilegt.

Malte Heidemann

Einen Kommentar schreiben

Eingetragen unter Klassiker neu entdeckt

Kommentare sind geschlossen.